Die mediale Berichterstattung
Vierundzwanzig Jahre nach der
Aktion des weissen Strichs beschloß Frank Willmann, angeregt durch
die Gewährung eines Stipendiums und die anzu-
nehmende Resonanz angesichts des
bevorstehenden 50.Jahrestages des Mauerbaus, zusammen mit seiner Lebensgefährtin
Anne Hahn ein Buch über die damaligen Ereignisse zu schreiben. Daß
damit eine Welle von zu-
nehmend völlig übertriebener
Aufmerksamkeit in Gang gesetzt werden würde war zum Zeitpunkt von
Willmanns ersten Absichts-Äußerungen im Herbst 2009 nicht vorauszusehen,
denn niemand kannte Willmanns Plan, das Buch zu diesem Jahrestag herauszubringen,
damit es in dem Wind mitfliegen konnte, der traditionell zu diesem Jubiläum
gemacht werden würde. Die Absichten der jubiläumsgerechten Zubereitung
verschweigend
interviewte er, nachdem das Stipendium
zugesagt und der Auftrag damit in der Tasche war die damaligen Protagonisten
und fertigte anschließned unter aktiver Beteiligung mancher der Interviewten
daraus unter Texte, die er dann in seinem Buch als Interviews bezeichnete,
weil ihr Aus-
gangspunkt der von Interviews gewesen
ist. Da im Zuge der Arbeiten zum Buch Anne Hahn und Frank Willmann meine
Stasi-Unterlagen einsahen, in welchen sich unter anderem auch die Protokolle
der Grepo-Aktivitäten und späteren Verhöre mit mir aufbewahrt
waren stießen sie im Verlauf ihrer Aktenrecherchen bald auf einen
der damals an meiner Festnahme betei-
ligten Grenzposten, nahmen mit ihm
Kontakt auf und führten mit ihm eben-
falls ein Interview durch. Durch
die in meinen MfS-Unterlagen aufbewahr-
ten Protokolle über Ereignisse,
die lange vor der Strich-Aktion dem MfS Anlaß für meine Überwachung
gewesen sind und aus meiner Weimarer Jugendzeit herrührten fanden
die beiden Autoren zusätzlich zu anderen ihnen für ihre Recherche
zugänglichen Quellen offenbar zugleich reiches Material für
die von ihnen beabsichtigte "DDRisierung" und "Weimarisie-
rung" der Hintergründe der
Strich-Aktion, mit der sie die Beweggründe und personale Besetzung
auf lokale biographische und mit diesen verbundene politische Hintergründe
zurückführen konnten. Dabei ist solches Rück-
blenden bekanntermaßen durchaus
ein verbreitetes Mittel, bestimmte Hintergründe zu dokumentieren und
vorhandene Absichten unter dem Aspekt vorangegangener Lebensumstände
zu betrachten. Die Autoren Willmann und Hahn haben jedoch ihre Rückblende
so eingesetzt, um aus der Aktion des weissen Strichs gewissermaßen
die unweigerliche Konse-
quenz einer bestimmten, den
Akteuren gemeinsamen lokalen, politischen und sozialen Vergangenheitsdisposition
herzuleiten. Konsequenz bezüglich ihrer Motive zu dieser Aktion und
auch der Art der Zusammensetzung ihrer Teilnehmer in Hinsicht auf die zweifellos
vorhandene Intensität mancher ihrer untereinander vorhandenen Verbindungen.
Aus der Perspektive der ursprünglichen Aktions-Impulse und der
herkunftsunabhängigen Teilnah-
memöglichkeiten handelt es
sich bei einer solchen Verortung in der Ver-
gangenheit jedoch um eine künstliche
Stilisierung zu dem Zweck, eine möglichst eindeutige und homogene
Geschichte zu schreiben, die sich
innerhalb eines bestimmten, bereits
vorhandenen Deutungshoheitsgebietes
(oder "Bedeutungs-Mileus") leicht
verstehen und daher gut verkaufen läßt.
Mit dieser "Vereindeutigung" durch
biographische Verortungen haben sich die beiden Autoren, auch wenn ihre
signifikant gezogene Verbindungslinie
in die Vergangenheit noch so sinnstiftend
und organisch erscheint meines Erachtens deutlich verhoben und damit den
freien Blick auf eine relativ herkunftsunabhängige Motivationslage
der damaligen Aktionsprotagoni-
sten völlig zugestellt.
Anne Hahn lenkte mit einem für
die Dokumentation der Strich-Aktion ir-
relevanten Text über die Weimarer
Subkultur der frühen 80er Jahre die Lesart in Richtung der gewünschten
DDR-Aufarbeitungsperspektive. Statt frei von den recht üblichen Sterotypien
dieser historisierenden Schreib-
weise eine vielschichtige und offensiv
brüchige Geschichte über eine Aktion an der Berliner Mauer zu
erzählen wurde identifizierbare Geschichte geschrieben, die in der
Ausdeutung keine Luft mehr läßt. Am Ideal biogra-
phischen Kontinuität orientiert
wurden die durch die Lebensumstände erzeugten Brüche, Schmerzen
und extremen Veränderungen zudem aus-
schließlich negativ bewertet,
was weder der Realität dieser speziellen Vergangenheit noch der des
Lebens überhaupt entspricht.
Deshalb bin ich der Auffassung, daß
das Ereignis des weissen Mauer-
strichs bis heute nicht realistisch
aufgearbeitet, sondern in das Projekt Aufarbeitung eingearbeitet und dafür
zubereitet worden ist. Auch wenn
Teile der bisherigen Darstellungen
realitätsnah sind, so ist die Folie, auf der diese zur Erscheinung
gebracht wurden einigermaßen verzerrend.
In ihrem Buch versäumten es
die beiden Autoren, die Hintergründe der Motivationen für das
Ziehen des weißen Strichs zu beleuchten, so bei-
spielsweise die Westberliner Situation
im allgemeinen und in den 80er Jahren im Besonderen. Das Phänomen
von Streetart und Wandmalerei in den Metropolen und sein Übergreifen
auf die Berliner Mauer zum Thema zu machen, aber auch die Wirkungen von
Zweckentfremdungen, wie die da-
malige exzessive Mauermalerei eine
davon war hätte zu dieser motivischen Ursachenforschung erheblicher
beigetragen als sich ausschließlich auf die gemeinsame regionale
und politische Vergangenheit der trotz freund-
schaftlicher Kontakte letztlich
zufällig in dieser Besetzung zusammenge-
kommenen Protagonisten zu konzentrieren.
Statt in der Westberliner Si-
tuation die elementarsten Beweggründe
aufzusuchen fanden die Autoren sie in der Subkultur der thüringischen
Kleinstadt Weimar, aus der die Mauerstrichmaler wenige Jahre zuvor gekommen
waren, ohne daß die Personal Besetzung zwangsläufig diese Einheitlichkeit
der Herkunft hätte ergeben müssen. Diese Besetzung hätte
auch eine andere sein können und war vom Initiator der Aktion nicht
auf diejenige angelegt, die sich dann schließlich gefunden hatte.
Daß sie am Ende jene aus fünf Ex-Weimarern bestehende Besetzung
geworden ist wird dann problematisch, wenn man daraus eine bestimmte zusätzliche
Hintergrund-Dynamik und Motivkraft herleitet, die für das Wesen der
Aktion und seine potentiellen Teilnehmer völlig irrelevant gewesen
sind.
Die Motive zahlreicher Berliner Mauermaler
klammerten Hahn/Willmann und die Medien völlig aus, stattdessen wurden
diese Maler nur als die nütz-
lichen Idioten des SED-Regimes und
seiner Mauer betrachtet, weil sie durch die Zweckentfremdung der
Berliner Mauer als Bebilderungs- und Einschreibefläche zu deren Positivierung
beitrage, was letztlich die Exi-
stenz der Mauer gutheiße und
verfestige. Daß viele der Malereien der deprimierenden und unantastbar
scheinenden Präsenz des kahlen Mauer-
betons etwas entgegensetzen wollten
-so wie das z.B. Graffiti-Sprayer in Trabantenvorstädten tun, um der
bedrückenden reinen Funktionalität der Betonwohnanlagen etwas
entgegenzusetzen- wurde überhaupt nicht thematisiert. Dies hätte
aber zum Thema gemacht werden sollen, um daraus eben jene Gegenthese entwickeln
zu können, die neben der Mar-
kierung der Westberliner Lebensraumgrenze
letztlich eines der Argumente für den weissen Strich gewesen ist:
Daß durch die vielen Mauermalereien die ursprüngliche Funktion
der Berliner Mauer zunehmend unsicht- und damit akzeptierbar geworden war.
Mit der Ausblendung der Zweckentfremdungs-
und Streetart-Motive konnte dann auch die Frage gar nicht erst gestellt
werden, ob die Zweckenfremdung bestimmter Funktionseinheiten automatisch
deren Affirmation betreibt oder auch zu deren Aufweichung beitragen kann.
Nach Buch, von den Buchautoren kuratierter
Wanderausstellung, zahl-
reichen Interviews, Artikeln, Fernseh-
und Radiobeiträgen wurde schließ-
lich auch noch ein Film gedreht.
Er erschien 2014 unter dem Titel "Striche ziehen". Der Film thematisiert
die Strichaktion nicht in einem Maße, die seinen Titel rechtfertigen
würde. Adäquater wäre es gewesen, ihn "Die Weimarer Subkultur
der 80er Jahre" oder in Anlehnung an Orwells 1984 "Der grosse Bruder" zu
nennen, da er sich auf den vermeintlichen Bru-
derverrat des Stasi-Informanten
Jürgen Onißeit konzentriert und Jürgen tatsächlich
auch der grössere der beiden Brüder ist. Das Weimar der frühen
80er Jahre wird gewissermaßen als biographische Kulisse dafür
verwendet, aus der dann auch der weisse Strich als angebliche Hand-
lungs-Konsequenz dieser politisch-biographischen
Prägungen eindeutig hervorgegangen sein soll. Eine runde Sache, in
der vermeintliche Ursa-
chen und aus ihnen hervorgehende
Handlungen alternativlos, schlüssig
und zeitlinear miteinander verbunden
worden sind.
Zu dieser grundsätzlichen Schräglage
hatte das vorher erschienene Buch von Hahn und Willmann die Vorlage geliefert
und nachdem so manches
Medienorgan diese Vorlage aufgegriffen
hatte schloß sich Regisseur Kroske
dem an. Kurz gesagt: Es handelt
sich dabei mit umgekehrten Vorzeichen um dieselbe Identifikations-und
Zuordnungsmethode, welche das MfS bei der Einordnung von Handlungen vorgenommen
hat und die es auch nach meiner Festnahme vornahm. Als die Personenüberprüfung
ergab, daß ich, Wolfram Hasch 2 Jahre zuvor noch in DDR Haft gesessen
hatte war für die Grenzpostenbeamten klar, daß es sich bei dem
gezogenen Strich eindeutig
um einen Angriff auf die DDR handelte.
Dieselbe dumpfe, stereotype Zu-
ordnung nahmen auch die bundesdeutschen
Medien sowohl 1986 als auch seit 2011 vor. Die spezielle persönliche
Vorgeschichte als eine von DDR-Kindheit und -Jugend in Verbindung mit der
Berliner Mauer als Ort des (Strich-Aktions-)Geschehens lassen vom Polit-Mainstream
unabhängigere Deutungen einfach nicht zu. Wenn dann noch ein
Zeitzeugnis wie dasje-
nige eines Fotos von der von Jürgen
Onißeit zu Beginn der Strich-Aktion an die Mauer geschriebenen Erklärung,
welche den simplen populären Aus-
deutungen vom Protest gegen das
DDR-Regime und seinen Todesstreifen etwas entgegensetzen könnte, wie
im Buch "Der weisse Strich" gesche-
hen nicht veröffentlicht wird,
dann ist es noch schwerer, diesen Fluten der erwartbaren Interpretationen
andere, weniger populäre Deutungen entge-
genzusetzen, obwohl sie die Authentizitätskraft
ursprünglicher Beweg-
gründe haben.
Ließ sich die von den Medien
1986 betriebene Popularisierung der Motive der Strichmaler (Protest gegen
die Todesgrenze und ein Regime, das seine Bürger einsperrt) noch auf
beabsichtigte Solidarisierungseffekte in der westdeutschen Bevölkerung
und die ideologischen Zersetzungsmuster
der Auseinandersetzung zwischen
den damaligen gegensätzlichen Gesell-
schaftssystemen begreifen so ist
sie ein Vierteljahrhundert nach Auflö-
sung des damaligen Gegners ziemlich
unerklärlich, weil die damaligen pragmatischen Gründe nicht mehr
nötig sind. Den gezogenen Strich so zu sehen, wie er damals gemeint
und in der sein Sinn in der Erklärung Jürgen Onißeits hinreichend
beschrieben war, nämlich als Verdeutlichung der Wirkung der
Berliner Mauer als eine Westberlins Leben ghettoisierende Betongrenze hätte
die Auseinandersetzung mit den vielen Folgen und Schicksalen der Berliner
Mauer perspektivisch bereichert. So aber wurde ihrer gebräuchlichsten
Deutung nur ein weiteres Beispiel hinzugefügt.
Medienbeispiel
Spiegel.de |